Mittwoch, 9. Mai 2012

Die Pathologie des 21. Jahrhunderts II

von Miriam Pierra 
2. Teil: Bummelstudent 2.0

Wir haben also im ersten Teil gelernt, dass Kinder, die Probleme mit dem Stillsitzen haben, potentiell gefährdet sind an einer heimtückischen Krankheit namens ADHS zu leiden, und dass es daher das Beste für die Kleinen sei, ihnen provisorisch mal eine Ladung Tabletten in den Rachen zu werfen – sicher ist sicher. Und auch verständlich: Wer hat heutzutage schon noch Zeit sich mit seinen eigenen Kindern auseinanderzusetzen, geschweige denn sie zu erziehen? Lass mal lieber den Onkel Doktor machen, der wird ja schließlich auch dafür bezahlt!

Ich war übrigens ein schreckliches Kind. Sogar im Kindergarten erinnern sich die Tanten noch heute an mich und meine Brüder. Die Schmidʻsche Sippe hinterließ eine Schneise der Verwüstung, wo immer wir eingeschult wurden. Heute rechne ich meinen Eltern hoch an, dass sie sich den verzweifelten Griff zum Kindertablettendöschen doch immer irgendwie verkneifen konnten. Doch nur weil ich meine Schulzeit ohne psychiatrische Atteste überstanden habe, darf ich mich offensichtlich noch lange nicht in Sicherheit wiegen. Vor kurzem stieß ich nämlich auf diesen Artikel im Online Unispiegel (siehe Link 1):

>> Massenleiden Prokrastination 
Auf geht's, Aufschieber
An diesem Nachmittag soll die Hausarbeit endlich fertig werden, schließlich war sie schon im letzten Semester fällig. Der Computer läuft, das Textdokument wartet, doch dann wandert die Maus noch kurz zu Facebook, das Telefon klingelt, und der Kühlschrank will auch noch gefüllt werden. Irgendwann ist der Tag um, das Dokument immer noch leer. Bummelstudent, hieß es früher verniedlichend. Mittlerweile sprechen Psychologen von Prokrastination, krankhaftem Aufschiebeverhalten. <<

Nun haben also auch wir Studenten unser exklusiv eigenes Leiden. Wo man früher „verniedlichend“ vom „Bummelstudenten“ sprach, wird heute das Kind beim Namen genannt: Prokrastination ist eine Krankheit! Eine Störung der Selbstorganisation, die man bitte keinesfalls unterschätzen darf! Weit mehr die Hälfte (über 60 %) der befragten StudentInnen berichten laut einer Studie der Pädagogischen Hochschule Freiburg davon, „dass sie Wichtiges liegenlassen und lieber Nebensächliches erledigen. Fast ebenso viele klagen über Konzentrationsschwierigkeiten und leichte Ablenkbarkeit.“ (siehe Link 2).

Darüber wann genau die Untersuchung durchgeführt wurde, finden sich übrigens keine Angaben. Da drängt sich mir die Frage auf: Gilt es auch als „leichte Ablenkbarkeit“, wenn mich die ersten wärmenden Sonnenstrahlen im Jahr von meinem Schreibtisch locken, ähnlich einer Comicfigur, die einer süßen Duftspur hinterher schwebt? Oder wenn draußen dicke Schneeflocken von Himmel fallen und es mich plötzlich unweigerlich in den Zehen juckt und ich schwören könnte, mein Snowboard rufen gehört zu haben?

Betroffenen Studenten beschreiben der Zustand unweigerlicher Lethargie so: „Ich bin absolut bereit, loszuarbeiten, und mein Körper bewegt sich nicht. Der Zeigefinger klickt einfach auf die linke Maustaste und schiebt mich zur nächsten WWW-Seite." (siehe Link 1) ... Ja, was denn?! So ein schlimmer Finger aber auch! Ich wage jedoch zu behaupten: Ein solch schwarzes Schaf befindet sich höchstwahrscheinlich an der ein oder anderen Extremität eines jeden von uns.




Die (bislang einzige) Prokrastinationsambulanz der Universität Münster hingegen nimmt das alles sehr ernst. Innerhalb von 6 Jahren will sie bereits rund 500 Studenten erfolgreich behandelt bzw. geheilt haben. Ich möchte an dieser Stelle übrigens auch anmerken, dass ich keiner unter akutem Motivationsmangel leidenden Person ihre Qualen absprechen möchte! Jawohl, es ist schon wirklich zaach, wenn man sich nicht ums Verrecken aufraffen kann, etwas zu erledigen, das man wohl schon längst unter Dach und Fach gebracht haben sollte.

In meiner Wohnung stapeln sich z.B. nach wie vor die Unterlagen aus über 5 Jahren Oberstufen-Schulunterricht – und nein, ich kann sie nicht einfach getrost in den Müll schmeißen, ohne sie vorher einmal auf eventuell noch Brauchbares durchforstet zu haben. (Ich verweise bei dieser Gelegenheit auf meinen – vielleicht ja auch ganz schrecklich pathologischen? – Papierfetisch.) Obwohl ich mir schon mehrmals den Zeh daran gestoßen habe, habe ich aus irgendeinem Grund noch nicht die Zeit gefunden, diesen riesigen Haufen an Staubfang auch tatsächlich auszumisten. Das belastet mich, ja wirklich! Psychisch, weil ich das Gefühl habe, die vorwurfsvollen Blicke des Haufens auf mir zu spüren, der nun schon seit Jahren ein Leben im Schwebezustand („Mist oder Mehrwert?“) führen muss, sowie physisch (siehe Zeh). Ich wehre mich jedoch dagegen, mir von einem Konglomerat an Seelenklempnern einreden zu lassen, dass ich mich deshalb mit einem speziell ausgebildeten Arzt darüber unterhalten sollte – für schlappe 75 € aufwärts die Stunde.
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1 http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,823956,00.html
2 http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,656559,00.html

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