Montag, 23. Juli 2012

In der Höhle des tanzenden Löwen: Ein Bericht von vorderster Festivalfront

von Miriam Pierra

„Bin dann mal die nächsten 4 Tage melten!“ Wenn ich mir heute durchlese, was ich da als letztes Lebenszeichen von der bundesdeutschen Grenze verschickt habe, muss ich schmunzeln. Oh, wie naiv ich doch war. Meine letzte Festivalerfahrung liegt offensichtlich wirklich schon zu lange zurück, als dass ich mich an eine der wichtigsten Faustregeln erinnern hätte können. Heute, genau eine Woche später, weiß ich es umso besser: Dauer des Festivals = minimale Dauer der anschließenden Regenerationsphase! Zumindest wenn man alles richtig macht – und ich meine „festival-richtig“.

Dabei lief die Vorbereitungsphase noch recht zivilisiert ab; meine ungestüme Reaktion, als ich das erste Mal das sensationelle Line Up für dieses Jahr zu Gesicht bekommen habe, ausgenommen. Aber zu meiner Verteidigung: Der Anteil meiner derzeitigen Lieblingsmusiker war einfach so hoch, dass es unangebracht gewesen wäre, keine Luftsprünge zu machen. Endgültig den Rest gegeben hat mir letztlich dieser aktuelle Trailer des Melt! 2012. (Und ich bekomme noch immer bzw. gerade jetzt unweigerlich Gänsehaut, wenn ich mir dieses Schmuckstück anschaue.)

 

Tschüss Welt & Hallo Melt!

 

Zunächst muss ich wohl ein kleines Geständnis ablegen: Ich war eigentlich noch nie (nicht nur auf der Durchreise) in Deutschland! Es war bisher einfach, wie soll ich sagen, zu nahe liegend. Umso mehr freute mich dieser mehr als bestechende Anlass, endlich mal in die Höhle des Löwen vorzudringen und bei der Gelegenheit auch gleich das Tanzbein mit ihm zu schwingen. Die Original-Idee wäre es ja gewesen, aus den gesammelten Eindrücken einen Eintrag für die Rubrik „Wir Ösis / Wir Piefkes“ zu basteln. Daraus geworden ist leider nichts, denn auf die Frage „Was ist denn spontan eure erste Assoziation mit Österreich?“ erntete ich meist nur fragende Blicke, bis sich dann irgendjemand eines mitleidigen „ähm ... Miriam Weichselbraun?“ erbarmte. Ich gab mein Vorhaben also wieder auf, weil ich mich bald fühlte, wie die Vertreterin meiner heiß hassgeliebten Bananenrepublik, die sich von Minderwertigkeitskomplexen geschüttelt unbedingt vom großen Bruder abgrenzen will, während der noch nicht mal Desinteresse zeigte. Lag’s etwa an unserer Unterzahl (wir waren zwischen geschätzten 15.000 Deutschen, 30.000 Holländern und ein paar zerquetschten Engländern die einzigen Powidltascherln vor Ort), an etwaigen Verständigungsschwierigkeiten oder warʻs letztlich doch die Berliner Luft, die uns einen feuchtfröhlichen Strich durch die Rechnung gemacht hatte?


Apropos feucht(fröhlich): Wie das bei Festivals eben so ist, bekamen wir Wind und Wetter natürlich voll zu spüren. Wobei ich sagen muss, dass ich selten so charmante Unwetter erlebt habe. Der wolkenverhangene Himmel war einfach ununterbrochen unbeschreiblich (und vor allem leider unfotografierbar) schön. Überhaupt ist das gesamte Naturspektakel in und um Ferropolis ein echtes Erlebnis! Das ehemalige Tagebau-Areal, das noch bis in die 90er Jahre ein Ort entfesselter Industriekräfte und Umweltsünden war, ist mit seinen bis zu 130 m langen und 30 m hohen alten Baggern (die nachts teilweise 10 m hohe Flammen speien) als Kulisse einfach unschlagbar. Die wenigen trockenen Momente wurde entsprechend genutzt, um den Blick gen Himmel zu richten und friedlich an einem Grashalm kauend das atemberaubenden Panorama zu genießen. Nur sind solch besinnliche Momente bei einem so vollen Programm eher spärlich gesät.

Dancing is dreaming with your legs! (© trndmusik)


Das Traurige an einem so grenzgenialen Line Up ist ja, dass es schlicht mehr Sehenswertes und Tanzbares bietet, als ein einzelner Mensch in so kurzer Zeit je sehen, geschweige denn tanzen könnte. Versuchen muss man es trotzdem unbedingt und so kam es, dass ich 3 Tage durchgehend von einer Bühne zur nächsten gehüpft bin. Und als ob die Reizüberflutung nicht schon perfekt gewesen wäre, schloss ich am Weg von Bühne A nach Bühne B immer wieder neue bunte Bekanntschaften, mit denen ich dann schunkelnd den jeweiligen Artisten frönte. Bei jedem Auftritt hatte ich eine neue beste Freundin gefunden, die ihre mit Glitzer übersäten Backen an die meine drückte, bis ich auch bald aussah wie eine der gigantischen Discokugeln, die von den riesigen Kränen hangen.



Müsste ich einen speziellen Aspekt herausgreifen, der das Melt! von anderen Festivals abhebt, dann dürfte (neben der einzigartigen Kulisse und dem unbeirrbaren Gespür für eine explosive musikalische Mischung) keinesfalls das Publikum unerwähnt bleiben. Egal wo, egal wer, egal wie akut unzurechnungsfähig: Welche Welten in diesem Areal auch immer aufeinanderprallten, ich kann mich an keine einzige ungute oder aggressiv geladene Situation erinnern. JEDER liebt hier JEDEN! Zwar nicht unbedingt so radikal wie die freie Liebe, an die man damals in Woodstock glaubte, aber immerhin. Du baust gerade alleine deine kleine Sandburg am Wasser? Toll, lass mich gleich noch meine ganze Sippe vom Campingplatz holen und wir helfen dir die dickste Sandburg zu bauen, die Ferropolis je gesehen hat! Und danach tauschen wir noch Trikots und ziehen Händchen haltend bis zum Morgengrauen um die Zelte! Diese bedingungslos konstruktive Dynamik ist es, die das Melt! Festival zu einem so unvergesslichen Abenteuer macht.

 

Zuerst Nostalgie, dann Kissenschlacht


Zu guter Letzt schulde ich euch noch eine (nach meinem Geschmack beschämend kurze) Bilanz der Bands, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Für einen harmonischen Einklang sorgte der Auftritt von Jessie Ware, die sich nach „Wildest Moments“ und „110%“ die Aufmerksamkeit mit den überaus tanzbaren Tracks von Disclosure (gleich auf der Nebenbühne) teilen musste. Wenig später stand ich auch schon bis zu den Knien im Wasser und wippte zu dem, was meine Landsleute Brandt Brauer Frick so von sich gaben. Ehe ich mich’s jedoch versah, saß ich auch schon auf den Schultern meines Freundes und sang lauthals zu „Little Numbers“ von Boy mit. Den leider viel zu frühen Abschluss des ersten Abends markierten dann Caribou und The Rapture auf der Bench Main Stage. Wie Kindern, die urplötzlich mitten im Spielen einschlafen, weil sie sich vor lauter Aufregung ihre Kräfte nicht richtig einteilen können, erging es nämlich auch uns letztlich an besagtem ersten Abend. Die Tatsache, dass ich somit Dillon, Bloc Party und I Heart Sharks verpasst habe, nagt allerdings immer noch an mir. (Frittenbude wird ja eh bald am Berlin Festival nachgeholt.)

An Tag 2 schüttelten die Beats von Todd Terje (und anderen Elektronikkünstlern auf der Big Wheel Stage) meine müden Knochen wieder wach. Als Kontrastprogramm gab es dann ein wenig guten alten Indierock von den Blood Red Shoes und den Citizens! Alte Erinnerungen an das Frequency Festival 2007 wurden geweckt und mein Kopf schaltete in Erwartung folgender Bands sogleich in einen fröhlich-erregten Nostalgie-Modus. Musiker wie die oben genannten Blood Red Shoes, Two Door Cinema Club oder auch Gossip begleiten mich nämlich schon seit einigen Jahren. Ganz besonders hin und weg war ich dann auch von der Performance von Two Door Cinema Club, die nämlich (entgegen meinen Befürchtungen) all ihre Klassiker zum Besten gaben. Auch die umwerfende Bühnenpräsenz der gerade mal 1,55 m kleinen Beth Ditto in ihrem feuerroten Aufzug war ein unvergesslicher Eindruck. Und wo wir schon bei tollen Bühnenshows sind: Das Berliner Duo Modeselektor rockte die Bench Main Stage, wie kaum einer der Inselmusikanten vor ihm! Zur Unterstützung holten sie kurzerhand Miss Platinum auf die Bühne, die mit einer Live-Version von "Berlin" begeisterte. Die Visuals waren teilweise so abgespaced, dass ich nachher 10 Minuten in eine im Wind wippende Baumkrone schauen musste, um meine Augen zu beruhigen. Ganz zu schweigen von der „Kissenschlaaaaaaaaacht!!!“, bei welcher zig Pölster in die Menge geworfen und aufgerissen wurden, bis wenige Minuten später das ganze Publikum in einem meterhohen Turm aus Federn versank.

Die ersten Sekunden der Modeselektor-Kissenschlacht
Um die erhitzten Gemüter wieder etwas runterzuholen lieferte uns der experimentierfreudige Export aus Österreich Elektroguzzi anschließend einen wohlklingenden elektronischen Abschluss – an Bass und Schlagzeug. (Ach ja, Buraka Som Sistema haben wir uns an diesem Tag auch noch gegeben, nur lässt sich ihre anarchistische, dadaistische Performance weder in Worte fassen, noch in diesen Absatz einbetten.)

 

Das Beste kommt zum Schluss ...


Am letzten Tag bin ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge aufgewacht, weil es einerseits wirklich bald vorbei sein sollte, andererseits aber noch eine Performance bevorstand, auf die ich mich mit am meisten gefreut hatte: The Whitest Boy Alive! Bekannt für ihre gebührenden Abschlusskonzerte am Melt! Festival wurden meine Erwartungen noch übertroffen, als überraschend auch noch das Wetter mitspielte und die Bench Main Stage zu „Burning“ ins Licht des Sonnenuntergangs tauchte. Eine weitere Überraschung verschaffte mir die Band Destroyer, die ich zuvor nur ganz flüchtig kannte, von der ich mich allerdings nicht mehr abwenden konnte und wollte, als sie ihren Song „Chinatown“ zum Besten gaben. Außerdem versüßten uns noch Alunageorge, Pollyester und Icona Pop unseren letzten Tag auf der Insel. Leider hatte der Sleeplessfloor (außerhalb des offiziellen Festivalgeländes) uns zuletzt so sehr in seinen Bann gezogen, dass wir Yeasayer und Twin Shadow verpasst haben. Aber auch wenn ich unterm Strich einige meiner „To Do List“-Bands leider nicht sehen konnte, habe ich jetzt erst recht Blut geleckt und umso mehr noch vor mir!

... und das ist gerade erst der Anfang!

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